Schon seit 1973 wird im § 3 des Arbeitssicherheitsgesetzes vorgeschrieben, dass jeder Unternehmer für seinen Betrieb zum Schutz seiner Beschäftigten einen Betreuungsvertrag mit einem Arbeitsmediziner und einer Fachkraft für Arbeitssicherheit abschließen muss. Den Umfang in Betreuungsstunden pro Jahr wird in der DGUV 2 beschrieben. Bis heute gibt es immer noch Unternehmer, die das noch nicht umgesetzt haben — durchaus auch bei größeren Betrieben mit Mitarbeiterzahlen von über 100 Mitarbeiter. Die Berufsgenossenschaft und das Amt für Arbeitsschutz sind in ihrer Kontrollfunktion häufig nachlässig. Nicht selten ist aber auch der Mangel an Fachpersonal die Ursache.
Im Laufe der Jahre hat sich das System gewandelt. Was früher in Vorschriften und Gesetzen strikt geregelt wurde hat heute mehr Empfehlungscharakter. Basis hierfür sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die durch den Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed) eingespeist werden. Das Gesetzeswerk dazu ist die Arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung (ArbMedVV). Ergänzend dazu gibt es die Arbeitsmedizinischen Regeln (AMR). Das neue Standardwerk sind die “DGUV Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen” in der 1. Auflage vom August 2022. Abgelöst wurde das bisherige Standardwerk “Berufsgenossenschaftliche Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen” in der 6. Auflage vom Januar 2016. Basis von allem ist die Gefährdungsbeurteilung, die der Unternehmer selbst mit Unterstützung des Arbeitsmediziners und der Fachkraft für Arbeitssicherheit erstellt und fortlaufend pflegt.
Viele Unternehmer tun sich mit der neuen Rolle etwas schwer. Sie suchen immer noch nach Vorschriften und Gesetzen, die die Situation explizit regeln. Die Denke “was nicht vorgeschrieben ist muss ich nicht unbedingt tun” ist noch weit verbreitet und die Metamorphose des Arbeitsmediziners und der FASI vom Störenfried zum Helfer und Unterstützer gestaltet sich manchmal langwierig und schwierig. Im folgenden möchte ich auf die Erstellung und die Pflege der Gefährdungsbeurteilung näher eingehen.
Der erste Schritt zu Beginn der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung ist die Erfassung der verschiedenen Arbeitsbereiche. Grob gesehen unterscheidet man zwischen Büro- und Produktionsarbeitsplätzen. Für jeden Arbeitsbereich wird ein Muster erstellt. Jede Abteilung wiederum macht ihre eigene Gefährdungsbeurteilung, die Muster bei sich gleichenden Arbeitsbereichen sind aber dieselben. Somit muss das Rad nicht immer neu erfunden werden. Andererseits soll jede Abteilung ihre eigene Gefährdungsbeurteilung erstellen, da zum einen die Verantwortlichkeit beim Abteilungsleiter liegt und zum anderen garantiert ist, dass sich jeder Verantwortliche damit auch beschäftigt und sich auskennt. Die hohe Wertigkeit der Gefährdungsbeurteilung für Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz muss in jeden Führungskopf.
Die Gefährdungsermittlung ist das eigentliche Kernstück der Gefährdungsbeurteilung. Für eine gute Gefährdungsermittlung ist viel “know how” notwendig, das der Arbeitsmediziner und die Fachkraft für Arbeitssicherheit liefern sollen. Neben der Unfallvermeidung ist die Ergonomie der Arbeitsplätze der wesentliche Teil. Unfallstatistiken in der Firma helfen dabei, Schwerpunkte und Systemfehler zu finden und abzustellen. Dabei helfen auch Statistiken von Bagatell- und Beinaheunfällen, um Schlimmeres im Vorfeld schon zu erkennen und zu verhindern. Die Güte der Ergonomie kann durch sogenannte Ergochecks gemessen werden. Ein bekanntes Verfahren der BAuA ist die Leitmerkmalmethode. Große Konzerne wie Bosch oder Daimler entwickeln eigene Ergochecks und haben dafür eine Zentralabteilung, die entwickelt, stetig anpasst und verbessert. Jeder Geschäftsbereich oder Standort hat wiederum eine eigene Abteilung, die diese Ergochecks durchführt und bei auftretenden Mängeln Maßnahmen vorschlägt und die Umsetzung kontrolliert. Weitere Hilfsmittel sind das EMKG (Einfaches Maßnahmenkonzept Gefahrstoffe (www.baua.de)), die Risikomatrix nach Nohl und Technische Regeln (TRBS, TRBA, TRGS, ASR … ). Weiterhin lohnt sich auch ein Blick in den jährlichen Gesundheitsbericht der BKK.
Wenn nun die Gefährdungen aller Arbeitsplätze (Unfallgefahr und Ergonomie) ermittelt wurden wird im Anschluss die Gefährdung beurteilt. Je nach Ergebnis wird dann die Dringlichkeit des Handlungsbedarfes festgelegt. Im Gefahrenbereich ist sofortiger Handlungsbedarf angesagt, die Arbeitsplätze werden bis zur Umsetzung gesperrt. Im Besorgnisbereich darf weiter gearbeitet werden, die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen zur Risikoreduktion sollen zeitnah umgesetzt werden. Hilfsmittel hierbei sind z.B. ein Lärmkataster, ein ErgoCheck oder auch ein Gefahrstoffkataster.
Wenn sich nun bei der Beurteilung der ermittelten Gefährdungen Auffälligkeiten ergeben, so sind Schutzmaßnahmen zu formulieren, die die Gefährdung reduzieren. Diese Schutzmaßnahmen sind mit Datum zu dokumentieren. Weiterhin wird ein Verantwortlicher und die Umsetzungsfrist festgelegt. Hierbei ist auf die Dringlichkeit zu achten. Gefahrenbereiche sind sofort zu sanieren, Besorgnisbereiche haben etwas länger Zeit. Im Vordergrund steht aber immer die Gesundheit des Mitarbeiters. In der Dokumentation werden auch erforderliche Vorsorgen oder Eignungsuntersuchungen aufgeführt und dann in die Vorsorgekartei der Mitarbeiter übertragen. Das wird oft vergessen, ist aber für die Systematik enorm wichtig.
Für die Durchführung der Maßnahmen gibt es einen Verantwortlichen und eine Frist. Der Verantwortliche trägt — wie der Name schon sagt — die Verantwortung, verteilt die Aufgaben, kontrolliert und sorgt für die Einhaltung der Frist. Gerade bei diesem Punkt fehlt häufig die Zuverlässigkeit und Nachhaltigkeit. Fristen werden aus unterschiedlichen Gründen nicht eingehalten und immer wieder verlängert. Hier gilt eigentlich der Grundsatz: “Finde keine Gründe, sondern Wege” oder noch klarer gesagt: “Wer nichts will findet Gründe, wer was will findet Wege.” Jedem sollte dabei immer bewusst sein, dass es um die Gesundheit von Menschen geht. Hilfreich kann auch sein, wenn man sich als Verantwortlicher mal auf die andere Seite stellt und sich fragt, wie man als Betroffener reagieren würde, wenn man so mit einem umgeht.
Ein ganz wichtiger Punkt ist die Reflektion von Maßnahmen. Wird die erwartete Risikominimierung durch die durchgeführten Maßnahmen auch wirklich erreicht oder muss nachgesteuert werden? Weiterhin müssen Maßnahmen bei Veränderungen immer wieder angepasst werden.
Die Gefährdungsbeurteilung wird in einem Dokumentationssystem festgehalten. Solche Dokumentationshilfen werden häufig von der Berufsgenossenschaft als Word-Vorlage angeboten.
In der Regel werden in den Betrieben die Gefährdungsbeurteilungen erstellt, weil die BG und das Amt für Arbeitsschutz das fordert, kontrolliert und im Verweigerungsfall das auch mit einer Ordnungsstrafe belegt. Der Gesundheit der Mitarbeiter hilft es aber nicht, wenn diese Dokumente erstellt werden und dann für die nächsten 3 Jahre bis zur geforderten Überarbeitung im Aktenschrank verschwinden. Die Gefährdungsbeurteilung muss gelebt werden, Maßnahmen in Betriebsanweisungen umgesetzt und die Mitarbeiter geschult und unterwiesen werden. Nur dann macht es Sinn. Weiterhin muss jede neu entdeckte Gefährdung (z.B. nach Unfall oder bei Veränderungen am Arbeitsplatz) sofort in die Gefährdungsbeurteilung übertragen und die Mitarbeiter diesbezüglich unterwiesen werden.
Seit Ende 2013 fordert das Arbeitsschutzgesetz explizit die Berücksichtigung der psychischen Belastung in der Gefährdungsbeurteilung. Das heißt: Alle Unternehmen und Organisationen müssen auch jene Gefährdungen für ihre Beschäftigten ermitteln, die sich aus der psychischen Belastung bei der Arbeit ergeben. Dafür gibt es gesonderte Verfahren (Impulsverfahren, ASITA, etc.), auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll. In den Gesundheitsberichten der BKK liegen die psychischen Erkrankungen als Diagnose bei den AU-Bescheinigungen hinter den Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems an zweiter Stelle, was den Handlungsbedarf deutlich macht. Arbeitsverdichtung durch Effizienzsteigerungsmaßnahmen und Personalmangel sind nur zwei Gründe dafür.
Seit dem 01.01.2018 ist das Gesetz zum Schutz von Müttern bei der Arbeit, in der Ausbildung und im Studium (Mutterschutzgesetz – MuSchG) in Kraft. Dieses sieht u.a. vor, dass der Arbeitgeber im Rahmen der Beurteilung der Arbeitsbedingungen nach § 5 des Arbeitsschutzgesetzes für jede Tätigkeit die Gefährdungen nach Art, Dauer und Ausmaß zu beurteilen hat, denen eine schwangere oder stillende Frau oder ihr Kind ausgesetzt ist oder sein kann.
Unter Berücksichtigung des Ergebnisses dieser Beurteilung hat er zu ermitteln, welche Schutzmaßnahmen voraussichtlich erforderlich sein werden. Sobald eine Frau mitgeteilt hat, dass sie schwanger ist oder stillt, hat der Arbeitgeber die Gefährdungsbeurteilung unverzüglich zu konkretisieren, die erforderlichen Schutzmaßnahmen festzulegen und gemäß § 14 MuSchG zu dokumentieren. Die erforderlichen Unterlagen findet man im Internet:
https://arbeitswelt.hessen.de/arbeitsschutz/sozialer-arbeitsschutz/mutterschutz
Zum Schluss möchte ich nochmal explizit auf drei Gefährdungen eingehen, wo mir ein verantwortungsbewusster Umgang mit der Gefährdungsminimierung persönlich sehr am Herzen liegt, da die Schwelle zum fatalen Ereignis sehr niedrig ist.
1. Stromunfall
Die Hauptursache für einen tödlichen Ausgang des Stromunfalles ist die Schädigung des Herzens mit seinem Reizleistungssystem. Folgende Faktoren beeinflussen die Auswirkung des Stromes auf den menschlichen Körper:
- die Stromstärke pro Fläche (Stromdichte)
- die Art des Stromes (Wechsel- oder Gleichstrom)
- der Stromweg über den Körper
- die Wirkungsdauer des elektrischen Stroms
- die Größe der Berührungsflächen
- die Leitfähigkeit an der Kontaktstelle
Da die Bedingungen sehr unterschiedlich sind und situationsbedingt auch stark variieren können sollte man jeden Kontakt zu Strom als potentiell tödlich ansehen und unbedingt vermeiden. Zu den Schutzmaßnahmen gehören:
- Keine stromführenden Kontakte offen liegen lassen.
- keine Maschinen mit defekten Stromkabeln benutzen
- bei Arbeiten an elektrischen Leitungen immer auf Stromfreiheit achten
- Kabel und elektrische Leitungen sicher verlegen und gegen Beschädigung schützen
- bei Schweißgeräten immer auf die Erdung achten
- niemals im feuchten Milieu mit offenen Stromquellen arbeiten
- usw.
2. Augenverletzung
Das Auge ist in der Arbeitswelt durch äußere Einflüsse erheblich gefährdet. Die größte Gefahr bieten rotierende Maschinen wie Bohrmaschinen und Winkelschleifer mit Trennscheiben, wo losgelöste Stein- oder Metallteilchen mit hoher V0 auf das Auge treffen und die Hornhaut verletzen. Hornhautschäden sind das Mindeste, was passieren kann. Wenn die Hornhaut durchdrungen wird trifft das Teilchen auf die Netzhaut und schädigt hier. Im schlimmsten Fall durchdringt das Teilchen auch noch den knöchernen Orbitaboden und gelangt so in das Gehirn, wo durch Gefäßverletzungen eine Hirnblutung ausgelöst werden kann. Das sind keine Hypothesen, sondern durchaus Realität.
Aber nicht nur physikalische Ereignisse, sondern auch Chemie kann das Auge zerstören. Säuren wie Schwefel- und Flusssäure oder Laugen wie Zement, Gips oder Branntkalk zerstören mehr oder weniger die Hornhaut und führen zur Erblindung.
Deshalb ist der Schutz des Auges mit einer Schutzbrille ein unbedingtes Muss. Dabei sollte man auf die geeignete Schutzbrille achten und diese auch explizit mit genauer Bezeichnung in der Gefährdungsbeurteilung aufführen, “Schutzbrille” allein reicht nicht aus. Berater von großen Herstellern wie Uvex helfen gerne bei der Auswahl und der Entscheidung für die geeignete Schutzbrille.
3. Absturzgefahr
Arbeiten in Höhen ist eine der gefährlichsten Tätigkeiten in der Arbeitswelt. Umso wichtiger ist es, dass man Gefährdungen mit suffizienten Maßnahmen entgegenwirkt.
Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass bei Absturzgefahr aus 1,00 m Höhe eine Absturzsicherung angebracht werden muss.
Leitern sind als Arbeitsplattform nicht geeignet. Sie dienen lediglich zum Überwinden von Höhen.
Hubbühnen müssen generell eine Absturzsicherung haben.
Ab 2,00 m Arbeitshöhe ist ein Auffang- und Haltegurt zu tragen.
Auf Baustellen mit Absturzgefahr ist im Rahmen der Arbeitsvorbereitung ein Plan zur Absturzsicherung zu machen. Dabei gehen wie immer technische Lösungen vor persönlicher Schutzausrüstung (PSA).
Gute Hinweise zur Absturzgefahr gibt es in einem Videoclip “Das kleine 1 x 1 des Arbeitsschutzes” der BauBG, der sehr zu empfehlen ist.
Schlussendlich muss auch die Eignung der Mitarbeiter für solche Arbeiten überprüft werden. Dazu führt der Arbeitsmediziner eine Untersuchung gemäß den DGUV Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen “Arbeiten mit Absturzgefahr” durch. Es ist im Arbeitsschutzgesetz vorgeschrieben, dass sich der Arbeitgeber von der Eignung des Mitarbeiters für die vorgesehene Tätigkeit überzeugen muss.
Zusammenfassend gesagt ist es gut, dass sich Gesetzgeber und Berufsgenossenschaften mehr in die Empfehlerrolle zurückziehen und weniger vorschreiben. Das eröffnet für den Arbeitgeber mehr Handlungsspielraum bei Planung und Durchführung des Arbeitsschutzes. Dabei wird er vom Arbeitsmediziner und der Fachkraft für Arbeitssicherheit unterstützt. Gleichzeitig erhöht es aber auch die Verantwortung. Es sollte eine moralische Selbstverständlichkeit sein, für seine Mitarbeiter sichere und ergonomische Arbeitsplätze zu schaffen, damit die Mitarbeiter gesund bleiben. Andererseits sind nur gesunde Mitarbeiter gute Mitarbeiter, die dem Unternehmen zum Erfolg verhelfen können.