von Dr. med. Klaus Merle 

Ersthelfer im Betrieb — noch zeitgemäß?

November 7, 2024 in Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz

Unter “Ers­ter Hil­fe” ver­steht man lebens­ret­ten­de und gesund­heits­er­hal­ten­de Sofort­maß­nah­men, die ein­fach erlernt und bei medi­zi­ni­schen Not­fäl­len, etwa bei Atem- oder Kreis­lauf­still­stand oder Blu­tun­gen, ange­wen­det wer­den können. 

Die Geschich­te der Ers­ten Hil­fe hat einen engen Bezug zum Mili­tär. Als Hen­ry Dun­ant die grau­sa­men Aus­wir­kun­gen der Schlacht von Sol­fe­ri­no (1859) mit­er­le­ben muss­te war das Anlass zur Grün­dung des Roten Kreu­zes. Der preu­ßi­sche Mili­tär­arzt Fried­rich von Esmarch war 1870 der ers­te Aus­bil­der, der in Vor­le­sun­gen und Schrif­ten ver­schie­de­ne Tech­ni­ken lehr­te (z.B. Esmarch­scher Hand­griff zum Frei­ma­chen der Atem­we­ge). Als 1885 die ers­ten Berufs­ge­nos­sen­schaf­ten in Deutsch­land gegrün­det wur­den kamen die ers­ten Vor­schrif­ten zur Unfall­ver­hü­tung und Prä­ven­ti­on heraus.

Seit dem 01.08.2014 wird in der DGUV Vor­schrift 1 Grund­sät­ze der Prä­ven­ti­on im Drit­ten Abschnitt § 24 bis § 28 die Ers­te Hil­fe in Betrie­ben geregelt. 


Welche Notfälle dominieren heute den Arbeitsalltag?

Schnitt­ver­let­zun­gen, Quetsch­ver­let­zun­gen, Prel­lun­gen und klei­ne­re Frak­tu­ren gehö­ren zum Arbeits­all­tag und stel­len kei­ne lebens­be­droh­li­che Situa­ti­on dar. Sie kön­nen ohne Zeit­druck einer wei­te­ren Ver­sor­gung zuge­führt wer­den. Außer der Blut­stil­lung bei der Schnitt­ver­let­zung bedür­fen die­se Ver­let­zun­gen in der Regel kei­ner unmit­tel­ba­ren Ers­ten Hil­fe. Der Ret­tungs­dienst ist inner­halb kür­zes­ter Zeit (>90 % inner­halb 10 — 15 min) vor Ort, wenn er benö­tigt wird. 

Augen­ver­let­zun­gen kommt eine beson­de­re Bedeu­tung zu, da bei lang­fris­ti­ger Schä­di­gung ein erheb­li­cher Ver­lust an Lebens­qua­li­tät droht. Fest­sit­zen­de Fremd­kör­per im Auge soll­ten mög­lichst schnell durch einen Augen­arzt ent­fernt wer­den. Bei che­mi­schen Ver­let­zun­gen wie Säu­re oder Lau­ge ist eine schnellst­mög­li­che Spü­lung über min­des­tens 15 min erfor­der­lich, um eine Schä­di­gung zu ver­hin­dern oder min­des­tens zu ver­min­dern. Auf­grund die­ser For­de­rung erkennt man schnell, dass häu­fig noch ver­wen­de­te Augen­spül­sta­tio­nen mit 250 ml Flüs­sig­keit völ­lig insuf­fi­zi­ent sind und immer eine Augen­spül­sta­ti­on mit einem Trink­was­ser­an­schluss zu emp­feh­len ist.

Strom­un­fäl­len kommt noch­mal eine ganz beson­de­re Bedeu­tung zu, da sie je nach Strom­fluss im Kör­per von harm­los bis töd­lich ver­lau­fen kön­nen. Im Vor­der­grund steht die Siche­rung der Unfall­stel­le (“strom­frei”) und die gege­be­nen­falls erfor­der­li­che Reani­ma­ti­on bei Kam­mer­flim­mern. In sehr schwe­ren Fäl­len kommt es auch zu mas­si­ven Brandverletzungen.

Ver­let­zun­gen eines gro­ßen arte­ri­el­len Extre­mi­tä­ten­ge­fä­ßes, Kam­mer­flim­mern bei Herz­er­kran­kun­gen und groß­flä­chi­ge Ganz­kör­per­ver­bren­nun­gen sind lebends­be­droh­li­che Situa­tio­nen und bedür­fen einer unmit­tel­ba­ren Inter­ven­ti­on. Wenn manu­el­ler Druck auf die Wun­de, ein Wound­pack­ing oder ein Druck­ver­band die Blu­tung nicht stil­len müs­sen Spritz­blu­tun­gen an gro­ßen Extre­mi­tä­ten­ar­te­ri­en mit gro­ßem Blut­ver­lust schnellst­mög­lich mit einem Tor­ni­quet ver­sorgt wer­den, da die Ery­thro­zy­ten als Sau­er­stoff­trä­ger durch nichts vor Ort ersetzt wer­den kön­nen, um eine Sau­er­stoff­un­ter­ver­sor­gung im Gewe­be zu ver­hin­dern. Blut auf der Stra­ße bringt Not für den Pati­en­ten. Bei Kam­mer­flim­mern fällt die Pum­pe aus und auch hier kommt dann der Sau­er­stoff nicht dort­hin, wo er gebraucht wird. Eine Tho­rax­kom­pres­si­on ist unmit­tel­bar nach Fest­stel­lung des Atem- und Kreis­lauf­still­stan­des durch­zu­füh­ren. Dabei wird bei der Lai­en­re­ani­ma­ti­on auf die Beatmung ver­zich­tet. Bei groß­flä­chi­gen Ver­bren­nun­gen gilt es, die Aus­küh­lung (Hypo­ther­mie) zu ver­hin­dern. Dazu ver­wen­det man ste­ri­le, tro­cke­ne und nicht haf­ten­de Ver­band­tü­cher (Alu­derm) zum loka­len Abde­cken und eine Iso­lier­fo­lie für den Wär­me­er­halt. Jeder bewusst­lo­se Pati­ent, der noch atmet und einen Kreis­lauf hat, wird in die sta­bi­le Sei­ten­la­ge ver­bracht, um eine Aspi­ra­ti­on beim Erbre­chen zu verhindern.


Wie sieht der Versorgungsweg aus?

In Deutsch­land ist die medi­zi­ni­sche Ret­tung im Ret­tungs­dienst­ge­setz von 1992 ver­an­kert. Es wird vor­ge­schrie­ben, dass im Ret­tungs­dienst die Dich­te des Net­zes ein Errei­chen der Unfall­or­te mit einem Ret­tungs­mit­tel in 96 % der Fäl­le inner­halb von 10 min mög­lich macht. Inner­halb die­ser Zeit kommt es aber beim Ver­letz­ten mit Herz­still­stand oder mas­si­ver Blu­tung zu irrever­si­blen Schä­den im Gehirn. Des­halb ist eine gute Ers­te Hil­fe durch den Lai­en essen­ti­ell für ein gutes Out­co­me des Patienten.


Was sollte an Hilfsmitteln im Betrieb vorhanden sein?

Logi­scher­wei­se macht es Sinn, die Hilfs­mit­tel vor Ort zu haben, die dabei hel­fen, eine Lebens­be­dro­hung abzu­wen­den bezie­hungs­wei­se zu min­dern. Die drei wesent­lichs­ten Not­fäl­le mit Lebens­be­dro­hung sind:

  1. Herz­still­stand mit Kam­mer­flim­mern infol­ge einer schwe­ren Herzerkrankung
  2. schwe­re Blu­tung — kon­trol­lier­bar oder nicht kontrollierbar
  3. Ganz­kör­per­ver­bren­nung 3. Gra­des mit mehr als 20 % Körperoberfläche

Ein AED (auto­ma­ti­scher exter­ner Defi­bril­la­tor) ist ein­fach zu bedie­nen. Er gibt Anwei­sun­gen, was zu tun ist und löst nur aus, wenn ein defil­lier­ba­rer Rhyth­mus vor­liegt. Im Erfolgs­fall setzt der Sinus­rhyth­mus schnell wie­der ein und stellt eine effek­ti­ve Pump­leis­tung des Her­zens sicher.

Eine arte­ri­el­le Blu­tung, die durch Druck auf die Wun­de nicht gestillt wer­den kann bedarf einer Behand­lung mit einem Tour­ni­quet. Bei Extre­mi­tä­ten­blu­tun­gen spricht man von einer kon­trol­lier­ba­ren Blu­tung. Hat ein Trau­ma eine inne­re Ver­let­zung ver­ur­sacht spricht man von einer unkon­trol­lier­ba­ren Blu­tung. In Kam­mern wie dem Brust­raum, dem Bauch­raum, dem Becken­be­reich oder den bei­den Ober­schen­kel ver­schwin­den bei einer inner­nen Blu­tung im ent­spre­chen­den Bereich mehr als 2000 ml Blut, was einen schwe­ren Blu­tungs­schock auslöst.

Blu­tun­gen in Brust- und Bauch­raum kann man nicht beein­flus­sen. Den Raum im Becken­be­reich kann man jedoch mit einer Becken­sch­lin­ge deut­lich ver­rin­gern und somit eine unkon­trol­lier­ba­re Blu­tung minimieren.

Ther­mi­sche Ver­let­zun­gen mit über 20 % Kör­per­ober­flä­che heben die Haut­funk­ti­on in die­sem Bereich auf. Die größ­te Bedro­hung stellt die Hypo­ther­mie (Aus­küh­lung) dar, was unter ande­rem die Blut­ge­rin­nung stark beein­flusst. Daher ist das unter allen Umstän­den zu ver­mei­den. Mit ste­ri­len Abdeck­fo­li­en (Alu­derm) oder einer Ganz­kör­per­fo­lie kann man dem vorbeugen.

Für klei­ne­re Ver­let­zun­gen haben natür­lich die Ver­band­käs­ten wei­ter­hin ihre Daseinsberechtigung. 


Was wird heute in der Ersthelferausbildung gelehrt?

Die BGHM als Ver­tre­ter der Berufs­ge­nos­sen­schaf­ten for­mu­liert ihre Vor­stel­lun­gen auf ihrer Website:

BGHM: Erst­hel­fer­aus­bil­dung


Zie­le
Nach Abschluss des Semi­na­res soll der Laie befä­higt sein, die Durch­füh­rung lebens­ret­ten­der Maß­nah­men zu ver­mit­teln. Anhand bestimm­ter äuße­rer Erschei­nungs­bil­der oder leicht fest­stell­ba­rer Sym­pto­me, wie Blu­tun­gen, Atem­still­stand, Blut­kreis­lauf­still­stand, Bewusst­lo­sig­keit, soll er die Gefahr für Gesund­heit und Leben der Ver­letz­ten oder Pati­en­ten erken­nen und ihr sicher begeg­nen können.

Inhal­te
Die Lehr­in­hal­te basie­ren auf Vor­ga­ben, die zwi­schen den Berufs­ge­nos­sen­schaf­ten und Ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen abge­stimmt wur­den, z. B.

  1. Ver­hal­ten beim Auf­fin­den einer Person
  2. Beach­ten der eige­nen Sicherheit
  3. Abset­zen des Notrufs
  4. Sichern der Unfallstelle
  5. Ret­ten aus aku­ter Gefahr
  6. Ers­te-Hil­fe-Maß­nah­men bei Ver­let­zung oder Krank­heit mit Stö­rung der Lebensfunktion

Dau­er

  1. Aus­bil­dung: 9 Std.
  2. Fort­bil­dung: 9 Std.

Was kann man besser machen, um effektiver zu werden?

Wenn ich als Laie effek­tiv Ers­te Hil­fe leis­ten will, dann muss ich mei­ne Basics ken­nen und kön­nen. Als Laie habe ich kein medi­zi­ni­sches Grund­wis­sen und alles was ich an zuviel unö­ti­ger medi­zi­ni­scher Infor­ma­ti­on bekom­me macht unsi­cher und ist daher ein Hin­der­nis. Die Aus­bil­dung muss ziel­ge­rich­tet und über­wie­gend prak­tisch ori­en­tiert sein. Mit Theo­rie ret­te ich kein Leben. Die Erfah­rung zeigt, dass in den Kur­sen die Theo­rie zeit­lich über­wiegt und die Pra­xis nur unge­nü­gend Platz fin­det. Häu­fig sind die Kur­se über­be­legt. Bei mehr als 10 Teil­neh­mern ver­liert der Aus­bil­der den Über­blick. Nach den neu­en Leit­li­ni­en der AHA (Ameri­can Heart Asso­cia­ti­on) von 2020 wird bei der Lai­en­re­ani­ma­ti­on nur noch die Tho­rax­kom­pres­si­on durch­ge­führt. Kri­te­ri­en einer qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­gen Tho­rax­kom­pres­si­on sind:

  1. Kom­pres­si­ons­fre­quenz: 100 — 120/min
  2. Kom­pres­si­ons­tie­fe: 4 — 5 cm
  3. voll­stän­di­ge Ent­las­tung nach Kompression
  4. Kom­pres­si­ons­pau­sen: < 10 sec
  5. Wech­sel der Hel­fer: alle 2 min

Um das als Laie so hin­zu­be­kom­men muss ich es immer wie­der üben — ich muss es auto­ma­ti­sie­ren. Die Beatmung ist schwie­rig und durch den Lai­en nicht effek­tiv durch­zu­füh­ren. Wei­ter­hin muss man dabei mit der Tho­rax­kom­pres­si­on aus­set­zen. Fol­ge davon ist ein Druck­ab­fall im Kreis­lauf, der wie­der­um zur Min­der­durch­blu­tung des Gehirns führt. Das ist noch nicht bei allen Ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen angekommen.

Bei stark art­ri­ell blu­ten­den Wun­den an den Extre­mi­tä­ten und auch bei unkon­trol­lier­ter Blu­tung ins Becken kann ich als Laie gut hel­fen. Mit der Anla­ge eines Tour­ni­quets stil­le ich eine Extre­mi­tä­ten­blu­tung. Die Becken­sch­lin­ge ver­klei­nert den Becken­raum und ver­hin­dert damit eine grö­ße­re Blu­tung im Beckenbereich.

Bei Ver­bren­nungs­ver­let­zun­gen mit grö­ße­rem Aus­maß kann ich durch eine Iso­lier­fo­lie den Wär­me­er­halt fördern.


Was wünsche ich mir für die Zukunft?

Aus mei­ner nun fast 40-jäh­ri­gen Erfah­rung in der Not­fall­me­di­zin und 25 Jah­re Arbeits­me­di­zin kann ich nur emp­feh­len, die Erst­hel­fer­aus­bil­dung prak­ti­scher zu gestal­ten und auf lebens­be­droh­li­che Zustän­de zu fixie­ren. Die dazu not­wen­di­gen Basics soll­ten inten­siv geübt wer­den, damit ein Auto­ma­tis­mus ent­steht. Dass die eige­ne Sicher­heit an ers­ter Stel­le steht muss nicht dis­ku­tiert wer­den. 9 Stun­den am Stück sind zu lang. Ich wür­de die Zeit auf maxi­mal die Hälf­te redu­zie­ren, die Wie­der­ho­lungs­in­ter­val­le kür­zer machen und die Aus­bil­dungs­in­hal­te klar defi­nie­ren und fest­schrei­ben sowie immer an die aktu­ell gül­ti­gen Leit­li­ni­en kurz­fris­tig anpas­sen. Somit wird über alle Orga­ni­sa­tio­nen hin­weg ein glei­cher Stan­dard gene­riert. In grö­ße­ren Betrie­ben (ab 20 Mit­ar­bei­ter) wür­de ich Inhouse-Ver­an­stal­tun­gen machen. Wün­schens­wert wäre es, allen Mit­ar­bei­tern eine Aus­bil­dung zukom­men zu las­sen. Wenn ein Mensch einen Herz­still­stand erlei­det fängt die Uhr an zu ticken. Und mit jeder Minu­te wird die Wahr­schein­lich­keit um 10 % gerin­ger, dass er ein Out­co­me mit vol­ler gesund­heit­li­cher Wie­der­her­stel­lung hat. Wenn ich in so einem Fall noch lan­ge nach einem Erst­hel­fer suche und als Neben­ste­hen­der nicht unmit­tel­bar mit der Tho­rax­kom­pres­si­on begin­ne hat der Betrof­fe­ne kaum eine Chan­ce. In den nor­di­schen Län­dern gibt es zu die­sem The­ma kei­ne zwei Mei­nun­gen. Die über­wie­gen­de Zahl der Bevöl­ke­rung ist fit in der qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­gen Tho­rax­kom­pres­si­on und kann mit dem AED umge­hen. In Deutsch­land haben wir die größ­te Chan­ce, das über die betrieb­li­che Aus­bil­dung umzu­set­zen, um ähn­li­che Zah­len wie im Nor­den zu erreichen.

Mein Fazit ist, dass die Erst­hel­fer­aus­bil­dung in Deutsch­land nicht mehr zeit­ge­mäß ist und sowohl inhalt­lich als auch orga­ni­sa­to­risch über­dacht wer­den muss.

Über den Autor

Dr. med. Klaus Merle

Facharzt für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin

Sportmedizin / Reisemedizin / Chirotherapie..

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