Alkohol am Arbeitsplatz ist ein Thema, was die Arbeitswelt seit Jahrzehnten begleitet. Es gibt dazu unzählige Statistiken und Ausarbeitungen, die in erster Linie Daten und Fakten liefern, aber weniger einen Weg für Unternehmen aufzeigen, wie man optimiert damit umgehen kann. Einen Überblick über Daten und Fakten liefert ein Factsheet der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Ich habe in meiner Funktion als Werkarzt in einem großen deutschen Konzern sehr viele Erfahrungen im Umgang mit alkoholabhängigen Mitarbeitern gesammelt. Es berührt einen auch menschlich, wenn man sieht, wie eine Familie unter den Folgen eines alkoholabhängigen Familienmitgliedes leidet und alles versucht, in eine normale und geregelte Welt zurück zu kehren. Die Causa Alkoholkrankheit liegt mir am Herzen und ich möchte in diesem Beitrag Wege für Unternehmen aufzeigen, wie man betroffene Mitarbeiter identifiziert, anspricht und auf dem Wege zu einer erfolgreichen Therapie begleitet. Es ist nicht einfach. Der Weg ist steinig und mit vielen Hindernissen versehen. Es wartet eine Menge Arbeit und Engagement auf einen, aber es lohnt sich. Es ist eine große Freude zu sehen, wie ein Mensch seine Sucht überwindet und wieder in der Geborgenheit seiner Familie ankommt.
Wie definiert man die Alkoholkrankheit?
Magnus Huss (1849), Abraham Baer (1878) und Elvin Morton Jellinek (1951) erkannten, dass Alkoholabhängigkeit eine Krankheit und keine Charakterschwäche darstellt. Jellinek hat ein Konzept entwickelt, was in Teilen heute noch von Bedeutung ist.
Am 18.06.1968 stellt das Bundessozialgericht fest: Alkoholsucht ist keine Charakterschwäche, fehlender Wille oder eine Laune. Sie ist “eine Krankheit”. Dadurch wurde erreicht, dass die Krankenkassen und Rentenversicherung die Behandlung bezahlen, was ein Meilenstein in der Therapie darstellt. Die Krankheit ist im ICD 10 unter F10.2 “Abhängigkeitssyndrom” klassifiziert. Die Kriterien zur Diagnose sind in der Abbildung aufgezeigt.
Was ist das Suchtgedächtnis?
Menschen können über Jahre hinweg viel Alkohol trinken, ohne jemals abhängig bzw. alkoholkrank zu werden. Es bedarf verschiedener Mechanismen, die zu einer Abhängigkeit führen.
Warum trinken Menschen Alkohol?
- um “wie die anderen zu sein”
- um Probleme zu vergessen oder sich zu entspannen
- um der Langeweile zu entkommen
- um sich erwachsener zu fühlen
- um zu experimentieren, auch aus Neugierde
- bei Angst vor dem Alleinsein
- aus Protest
- aus Unsicherheit, fehlende Konfliktfähigkeit
- bei Beziehungsstörungen
- bei persönlichen Schicksalen
- zur Flucht vor Alltagsproblemen
- bei Überforderungen
Wie entsteht das Suchtgedächtnis?
Nicht jeder, der regelmäßig Alkohol konsumiert, wird abhängig und prägt ein Suchtgedächtnis aus.
Voraussetzung ist der Anlass:
- negative Emotionen (Ängste, Stress) vermeiden
- positive Effekte (Entspannung, Euphorie) erzeugen
Dopamin ist ein Botenstoff, mit dem die Nervenzellen untereinander kommunizieren. Aufgabe des Dopamins ist es, unsere Aufmerksamkeit auf die Reize zu lenken, deren Befriedigung zu Wohlbefinden führt. Es markiert also die entsprechenden Reize als besonders “wichtig”.
Sucht beginnt mit Verlangen (Craving)
Sucht basiert auf einer Fehlsteuerung des Belohnungssystems
- etwa 200 x mehr Dopamin wird ausgeschüttet
- Nervenzellen wehren sich gegen diese Dopaminflut und reduzieren die Anzahl der Rezeptoren
- das Signal wird schwächer und die Empfindung ist ein Belohnungsdefizit, weil sich das Gehirn an stärkere Signale gewöhnt hat
- es entsteht Verlangen
Dopamin dockt an spezielle Rezeptoren an
Verlangen wird zur Sucht:
- Glutamat ist ein wichtiger erregender Neurotransmitter im zentralen Nervensystem
- Alkohol dämpft kurzfristig diese Wirkung durch Blockade der Rezeptoren (=NMDA-Rezeptoren)
- Signalabschwächung
- Glutamat wird vermehrt ausgeschüttet, um altes Gleichgewicht wiederherzustellen
- bei Wegfall des Alkohols entsteht dann eine Übererregung, da die Blockade wegfällt.
- verstärkte Signalwirkung führt zur Übererregung (Unruhe, Gereiztheit, Aggressivität)
- erneuter Alkoholkonsum reduziert die Erregung
- so entsteht die Spirale zur Suchterkrankung
Alkohol blockiert Glutamatrezeptoren und täuscht Entspannung vor. Die natürliche „Glutamatbremse“ ist bei der Alkoholkrankheit nachhaltig gestört.
Die Gnade des Vergessens ist dem Suchtgedächtnis nicht gegeben !
Mit Hilfe der Positronenemissionstomographie (PET) kann man sehr schön nachweisen, wie selbst Bilder von alkoholhaltigen Getränken das Suchtgedächtnis auch bei “geheilten” Alkoholikern anregen. Eine erfolgreiche Entwöhnungstherapie bedeutet auch eine lebenslange Abstinenz, um letztendlich “trocken” zu bleiben.
Wie motiviere ich einen Alkoholkranken zur Annahme des Hilfsangebots?
Alkoholabhängige Personen vermeiden nach Möglichkeit die Konfrontation mit der Realität und flüchten sich in Ausreden. „Ich trinke nicht mehr als die anderen.“ „Ich trinke nie am Morgen.“ „Nur am Wochenende.“ „Ich trinke nie ausser Haus” sind einige Beispiele. Man lenkt vom Thema ab („Nicht der Alkoholkonsum ist mein Problem, sondern meine Depressionen.“) oder wird sogar aggressiv („Mein Konsum geht niemanden etwas an!“). Psychische Abwehrmechanismen sind nicht krankhaft, sondern gehören zur psychischen „Grundausstattung“ jedes Menschen. Diese Realitätsverleugnung tangiert oft den gesamten privaten und beruflichen Alltag und beeinträchtigt die Beziehungen zu anderen Menschen. Erst wenn der Betroffene selbst erkannt hat, dass er ein Alkoholproblem hat, ist er bereit sich helfen zu lassen und etwas zu unternehmen. Diese Einsicht wird aber nur erreicht, wenn der Betroffene an den Folgen seiner Trinkerei mehr leidet, als der Alkoholkonsum ihm andererseits noch Lustgewinn oder Trost verschafft. Die Eigenmotivation kommt — wenn überhaupt — erst sehr spät. Deshalb muss man nach anderen Motivationen suchen und die Voraussetzungen dafür schaffen. Ein Beispiel dafür ist der Verlust des Arbeitsplatzes. Man spricht dann von Fremdmotivation, die in diesem Fall der Arbeitgeber initiiert. Wir haben in unserem Werk ein Vorgehen gewählt, was ich im Folgenden beschreiben möchte.
Wie geht man mit “einem Fall” praktisch in einem Unternehmen um?
Die wichtigste Maßnahme ist die Definition von “0,0 Promille am Arbeitsplatz” in der Arbeitsordnung des Unternehmens. Das ist aus Gründen der Arbeitssicherheit unablässlich. Aus Solidarität gegenüber den gewerblichen Mitarbeitern sollte das aber auch für den “indirekten” Betrieb inklusive Vorständen gelten. Das verbessert die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz im ganzen Unternehmen.
Das größte Problem in Unternehmen ist das Wegschauen der Kollegen. Man hört im Nachhinein Sprüche wie “Ich bin kein Fachmann”, obwohl jeder Laie die Situation erkennt. “Ich will ihm doch nichts Böses”, obwohl unterm Strich das Verschweigen dem Betroffenen mehr schadet als hilft. Regelmäßige Schulungen der Belegschaft zu diesem Thema helfen dabei — es könnte aber trotzdem mehr sein. Die Broschüre “Alkohol am Arbeitsplatz — nüchtern betrachtet” gibt dazu gute Hinweise und kann auf dieser Seite unter Downloads heruntergeladen werden.
Große Unternehmen haben verschiedene Player, die sich mit dem Thema befassen und unterschiedliche Rollen im System haben. Der Werkarzt hat den medizinischen Part und ist erster Ansprechpartner für den Betroffenen. In dieser Rolle ergänzt er sich — wenn vorhanden — mit der Betrieblichen Sozialhilfe. Der Betriebsrat wacht über den Rechten des Mitarbeiters. In Unternehmen mit einem Betriebsrat ist es sinnvoll, eine Betriebsvereinbarung zu diesem Thema abzuschließen, die im Prozessablauf enorm hilfreich ist, da Eckpunkte im Vorfeld geklärt sind. Suchthelfer oder Betriebliche Ansprechpartner Sucht (BAS) sind Mitarbeiter, die sich für dieses Thema interessieren und in einem halbjährlichen Wochenendlehrgang bei einer dafür qualifizierten Institution eine entsprechende Ausbildung mit einem Abschluss erhalten. Sie sind Ansprechpartner im Betrieb und begleiten Betroffene bei ihren unterschiedlichen Wegen im Therapieverlauf. Ihre Arbeit hat keinen therapeutischen Ansatz. Zum Schluss regelt die Personalabteilung die personalrechtliche Situation, wo es verschiedene Ansätze gibt.
Das Swimlane-Diagramm “Vorgehensweise bei Suchterkrankungen” zeigt die verschiedenen Phasen des Weges mit den entsprechenden Verantwortlichen vom ersten Gespräch bis zum Therapieabschluss — erfolgreich oder erfolglos.
Das initiale Geschehen kann unterschiedlich aussehen:
- Der Betroffene wendet sich mit seinem Problem an seinen Vorgesetzten oder einen Suchthelfer. Diese Fälle kommen eher selten bis nie vor.
- Dem Vorgesetzten oder einem Kollegen fällt ein Alkoholmissbrauch auf.
Es wird ein erstes Gespräch geführt, in dem der Betroffene sein Problem schildern kann. Unter 1. kann mit der Initiierung der Therapie begonnen werden. Der erste Schritt ist die Beratungsstelle. Hier wird in einem sozialmedizinischen Gutachten das Behandlungsverfahren geklärt. In der Regel ist die stationäre Therapie die erfolgsversprechenste Lösung und dauert ungefähr 3 — 4 Monate. Öfters wird danach zur Abstinenzsicherung noch eine ambulate Therapie angehängt. Während dieser Zeit ist der Betroffene arbeitsfähig und besucht in der Regel einmal wöchentlich den Behandler. In der Nachsorge besucht der Betroffene über mindestens 2 Jahre eine Selbsthilfegruppe. In regelmäßigen Abständen wird zur Abstinenzkontrolle der CDT-Wert kontrolliert. Wenn die Nachsorge erfolgreich absolviert wird endet die Maßnahme und alle Einträge in der Personalakte zu diesem Thema werden gelöscht.
Häufiger ist der Grund für ein Gespräch der Alkoholmissbrauch am Arbeitsplatz trotz Verbotes. Im ersten Schritt führt der Vorgesetzte das Gespräch, der Betriebsarzt/Werkarzt kann auf Wunsch der Beteiligten dazukommen. Sollte der Betroffene ein Problem zugeben und eine Behandlung wünschen wird wie unter 1. weiter verfahren. Sollte er kein Problem zugeben erhält er eine Ermahnung durch die Führungskraft. Weiterhin werden die Verhaltsregeln besprochen und schriftlich festgehalten. Nach vier bis sechs Wochen wird ein weiteres Gespräch geführt und die vergangene Zeit reflektiert. In dieser Situation ist die Personalabteilung noch nicht im Spiel und es gibt keine Einträge in die Personalakte.
Sollte sich im Folgegespräch des Betroffenen mit dem Vorgesetzten die Situation gebessert haben werden weitere Gespräche im Abstand von 4 Wochen geführt, um das Thema auf dem Schirm zu behalten. Hat sich die Situation nicht geändert wird die Personalabteilung benachrichtigt. Hier wird dem Betroffenen erneut das Angebot einer Therapie unterbreitet. Da jetzt bei Beteiligung der Personalabteilung das Fehlverhalten aktenkundig wird erhält der Betroffene eine Abmahnung wegen wiederholtem Verstoß gegen die Arbeitsordnung, wenn er keine Hilfe annimmt und ein Problem abstreitet. In unserem Unternehmen wurde bei zwei Abmahnungen die Kündigung ausgesprochen. Um die Motivation zur Therapie bei dem Betroffenen zu erhöhen haben wir den Mitarbeiter mit Datum Tag des Ereignisses + neun Monate gekündigt. Sollte die Therapie erfolgreich verlaufen sein (Votum des Werkarztes) wurde die Kündigung widerrufen und er an seinem alten Arbeitsplatz weiter eingesetzt. Sollte es zu einem Rückfall kommen erhält der Betroffene mit den gleichen Kriterien eine zweite Chance zur Therapie.
Mit dieser Methode waren wir recht erfolgreich. In meinen 20 Jahren im Unternehmen haben wir ungefähr 20 bis 25 Mitarbeiter bei einer Alkoholentwöhnungstherapie begleitet. 5 Mitarbeiter brauchten einen zweiten Anlauf und lediglich in einem Fall wurde eine Kündigung ausgesprochen, die auch durch das Arbeitsgericht bestätigt wurde.
Was kann man als Unternehmen präventiv tun?
Suchtkreis
Große Unternehmen haben einen Werkarzt, eine Betriebliche Sozialhilfe (HSS), einen Betriebsrat und mehrere Betriebliche Ansprechpartner Sucht (BAS). In diesem Kreis werden “Verdachtsfälle” und “Fälle” besprochen und auch begleitet. Jedem BAS wird ein “Fall” zugeordnet. Er hält Kontakt und berichtet in den Suchtkreis. Manche Unternehmen installieren auch eine Suchtgruppe. Hier treffen sich Betroffene und alle Interessierten mit Alkoholproblemen. Begleitet wird die Suchtgruppe durch einen BAS. Es dient zum Informationsaustausch und hilft den Betroffenen bei der Abstinenzsicherung. Oftmals sponsert der Arbeitgeber dafür eine Arbeitsstunde. In Mittelstandsbetrieben lässt sich das schwer aufstellen. Hier empfiehlt es sich, eine Task Force für solche Fälle aufzustellen. Auch würde ich Interessierte zu BAS ausbilden lassen, die in solchen Fällen sehr hilfreich sein können.
Aktionswoche
Die Deutsche Hauptstelle Sucht ruft jedes Jahr eine Suchtwoche aus. Jeder Betrieb kann in diesem Zeitraum Aktionen im Unternehmen planen, wo verschiedene Facetten des Alkoholkonsums betrachtet und illustriert werden. Material für eine solche Veranstaltung wird kostenlos zur Verfügung gestellt. Ein Film zu diesen Aktionen findet man in Youtube (Klick auf das obere Bild).
Beratungsstellen
Beratungsstellen für alkoholkranke Menschen sind in ganz Deutschland verteilt. Die Deutsche Hauptstelle Sucht hat ein Adressenverzeichnis zusammengestellt, wo man die nächste Beratungsstelle anhand der PLZ suchen kann.
Das Handling von alkoholkranken Menschen am Arbeitsplatz gehört mit zu den schwierigsten Gebieten im Alltag eines Personalers. Um es letztendlich effizient gestalten zu können braucht es einen Plan. In diesem Beitrag habe ich versucht, Wege aufzuzeichen. Zum Schluß möchte ich noch bemerken, dass die Alkoholkrankheit genauso eine Krankheit wie Herzinfarkt, Krebserkrankung oder Bandscheibenvorfall ist. Es hat nichts mit Laune und Charakterschwäche zu tun — im Gegenteil: alkoholkranke Menschen sind in vielen Fällen liebevolle Menschen gegenüber Frau und Kinder — wenn sie nicht getrunken haben. Wenn man das Prinzip der Alkoholkrankheit verstanden hat bietet es viele Ansätze zur Hilfe. Diese Menschen verdienen unseren Respekt und unsere Hilfe. Häufig sieht es aber ganz anders aus.