Überblick
Schon mit Beginn des neuen Jahrtausends kamen die Diskussionen auf, dass die psychischen Belastungen an Arbeitsplätzen beurteilt und deren Einfluss auf die Gesundheit bewertet werden müssen. Strategien zur Minimierung dieser Belastungen seien unbedingt erforderlich. Überwiegend durch die Gewerkschaften bzw. Betriebs- oder Personalräte wurde das Thema getrieben. Mehr als eine Dekade später wurden im Juni 2013 die §§ 5 und 6 des Arbeitsschutzgesetzes angepasst und die Gefährdungsbeurteilung unter § 5 Absatz 3 Punkt 6 verpflichtend eingeführt. Somit waren nun die Arbeitgeber am Zug und mussten sich Verfahren zur Umsetzung überlegen. Über allgemeine Betrachtungen der Arbeitsplätze mit Einbeziehen der Mitarbeiter bis hin zu Fragebogenaktionen und moderierten Workshops wurden die unterschiedlichsten Methoden angewendet.
Wenn man nun 10 Jahre nach der verpflichtenden Umsetzung der psychischen Gefährdungsbeurteilung auf die Krankheitszahlen schaut, dann gehen die Erkrankungen nicht wie erhofft zurück, sondern steigen stetig an und haben in diesem Jahr erneut einen Höchstwert errreicht. Dabei sind Frauen deutlich häufiger betroffen als Männer. Im letzten Jahr war der Anstieg der Fehltage gegenüber dem Vorjahr bei Männer mit 11% höher als bei Frauen mit 8%, das heisst die Problematik wird auch immer mehr zur “Männersache”. In der Gruppe der 20 — 29 Jährigen war der Anstieg am Höchsten (Männer 29%, Frauen 24%). Vor allem kurze Krankschreibungen mit einer Dauer von 1 bis 3 Tagen sind angestiegen. Von diesen Fällen gab es 2022 31% mehr als im Vorjahr. In der allgemeinen Statistik kann man aber auch lesen, dass generell die Krankheitsfälle bei der Altersgruppe 20 — 29 Jahren ungefähr das 1,5‑fache über denen der folgenden Gruppen beträgt und hier auch der Schwerpunkt der AU von 1 — 3 Tagen liegt. Ich denke, dass diese Altersgruppe nicht besonders gefährdet ist, sondern eher das Verständnis für verantwortungsvolle Arbeit und Freizeitgestaltung noch nicht im richtigen Verhältnis zueinander steht. Die Diagnose ist nur ein Dummy, der von den Betroffenen für das Erreichen der AU genutzt wird, da es für den Arzt schwierig nachzuweisen ist. Aus diesen Statistiken muss man nun zwangsläufig schließen, dass das ganze Bemühen um Verbesserung absolut keinen Erfolg hatte. Aber warum ist das so. Ich habe das ganze Thema als Leitender Werkarzt im Geschäftsbereich eines Großkonzerns mitbetreut und verfolgt und bin gleichzeitig aber auch Betriebsarzt bei vielen mittelständischen Betrieben. Mit diesen Erfahrungen möchte ich versuchen, Gründe für die mangelhafte Wirksamkeit zu finden und Ansätze für die Zukunft vorzustellen.
Was ist psychische Belastung?
Von außen wirkt auf den Menschen eine neutrale Belastung, die er für sich filtert. Dabei unterscheidet er im ersten Schritt zwischen “irrelevant für mich — angenehm — gleichgewichtsstörend”. Wenn “gleichgewichtsstörend” erkannt wird und somit Anpassungsbedarf besteht prüft er im zweiten Schritt, ob zur Bewältigung seine Ressourcen ausreichen oder fehlen. Im ersten Fall fühlt er es als positive Herausforderung, im zweiten Fall braucht er Hilfe und Unterstützung. Bei den Ressourcen unterscheidet man zwischen extern (Tätigkeits‑, Handlungs- und Entscheidungsspielraum) und intern (Gesundheit, Persönlichkeit, Qualifikation, Anlagen, Erfahrung). Bei der Bewältigung geht man zunächst die Sache selbst an (problemorientiert), betrachtet dann aber auch den Bezug zur Situation (emotionsorientiert) und führt die Anpassung durch. Nach einer geraumen Zeit betrachtet man die Situation erneut und schaut, ob sich eine positive Veränderung eingestellt hat — genauso wie bei jeder anderen Art der Gefährdungsbeurteilung auch.
Warum funktioniert es nicht?
Fehlerquellen
Hauptschwierigkeit bei der Erfassung der psychischen Belastung ist die nicht messbare Größe und die subjektive Bewertung durch den Menschen selbst. Sowohl in Fragebogenaktionen als auch in Workshops erhält man wenig reale Ergebnisse. Während die wirklich beanspruchten Mitarbeiter häufig aus Stolz oder Pflichtbewusstsein das Problem eher herunterspielen wollen andere Mitarbeiter die Chance nutzen, dem Arbeitgeber “mal richtig einen reindrücken” und nehmen die Anonymität zum Anlass, um übertreibend auszuteilen. Unter diesen Umständen sind die Ergebnisse wenig hilfreich, um die wirklichen Problemfälle herauszufinden und daraus Hilfsansätze zu kreieren. Bei meinem früheren Arbeitgeber haben wir 2016 begonnen, über den gesamten Geschäftsbereich bis in Einheiten von mindestens 6 Mitarbeiter moderierte Workshops auszuschütten. In Analyseteams haben wir die Workshops organisiert und die Ergebnisse danach betrachtet. Überwiegend wurden Befindlichkeitsstörungen unterschiedlichster Art als psychische Belastung deklariert, was zum größten Teil mit psychischer Belastung per definitionem nichts zu tun hatte. Als wir nach 3 Jahren evaluieren wollten war aus dem gesammelten Wust von Daten keine gezielte Evaluation möglich, dass heisst das Ergebnisse war null. Für die Umsetzung haben wir einen unteren einstelligen Millionenbetrag ausgegeben. Das Geld hätte man besser anders anlegen können. Auch bei der Dokumentation gibt es Schwierigkeiten. Wenn ich Systemfehler erkenne kann ich Massnahmen dagegen in die Wege leiten und das auch wie bei einer sonstigen Gefährdungsbeurteilung dokumentieren. Wenn ich aber individuelle Probleme habe, wo andere am Arbeitsplatz gut mit klarkommen, wie soll ich hier dokumentieren. Das funktioniert nicht, weil sie personenbezogen und nicht arbeitsplatzbezogen sind.
Umsetzung von Maßnahmen
Während einfache Maßnahmen ohne größeren Kosten relativ zügig umgesetzt werden wird bei Personalveränderungen und Coachingmaßnahmen — Dinge, wo man Geld in die Hand nehmen muss — häufig gezögert. Hier sprechen wir von den Keypoints. Wenn man schon mal Triggerpunkte eruiert und dann nicht konsequent weiter verfahren wird, kann man keine Besserung erwarten. Und gerade in diesen Fällen war es nicht ein individuelles, sondern ein Systemproblem, was dann eine ganze Gruppe von Mitarbeitern betrifft.
Kommunikation und Führung
In den Leitbildern von großen Konzernen wie Bosch findet man immer wieder Schlüsselwörter wie Offenheit und Vertrauen, Fairness, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, Legalität. Ich glaube schon, dass diese Dinge von den Konzernen absolut ernst gemeint sind, bei der Umsetzung aber an der Individualität der Führungskräfte mit ihren persönlichen Interessen — aber auch Nöten — scheitern. TOP to DOWN — Kommunikation ist die Regel, DOWN to TOP über Ebenen hinweg nicht gewünscht bzw. mit Sanktionen für die Betroffenen bedroht. Mitarbeiterbefragungen durch die Konzernspitze sind ein Mittel, um diese Grenzen zu überwinden und werden auch regelmäßig durchgeführt. Dennoch passiert wenig. Ich habe mal drei Ergebnisübersichten von Mitarbeiterbefragungen für meinen Betreuungsbereich als Werkarzt übereinandergelegt und sie waren nahezu deckungsgleich.
In meinen Augen sind mangelhafte Kommunikation und Führung die wesentlichen Faktoren für die Entstehung von psychischen Belastungen. Führungskräfte werden überwiegend nach Fachkompetenz und weniger nach Sozialkompetenz ausgewählt. Zwei Kernaussagen bewahrheiten sich immer wieder:
“Wer führen will muss Menschen mögen”.
“Wer führen will muss dienen können”.
Kommunikation wird aus Zeitgründen häufig vernachlässigt. Kommunikationsfähigkeit ist aber auch ein wesentliches Merkmal einer Führungskraft, was bei vielen Führungskräften nicht vorhanden ist. Somit sind die Probleme vorprogrammiert. In einem weiteren Blog werde ich demnächst über Kommunikationsabläufe bei verschiedenen Anlässen berichten.
Was sollte sich ändern?
Führungkräfteauswahl
Bei der Auswahl der Führungskräfte sollte die Sozialkompetenz die entscheidende Rolle spielen. Weitere Kernmerkmale sind: gute Kommunikationsfähigkeit, gute Auffassungsgabe und Organisationsgeschick, offener und ehrlicher Umgang mit den Mitarbeitern. Bestehende Führungskräfte mit Defiziten in diesen Sparten sollte gecoacht werden.
Arbeitsmenge
Mitarbeiter können bei vermitteltem Verständnis auch mal über das normale Maß hinaus arbeiten. Dabei geraten sie kurzzeitig in ein körperliches und mentales Defizit, was aber nach Reduzierung der Arbeitsspitze wieder schnell auf Normalzustand zurückgeführt werden kann. Nun kommen fälschlicherweise viele Arbeitgeber auf die Idee, es geht doch und belassen es bei der Arbeitsmenge. Folgerichtig wird Unzufriedenheit, Überbelastung und schlussendlich Krankheit erzeugt. Ein auf diese Art getäuschtes Klientel wird nie wieder bereit sein, mal über das Limit hinaus zu arbeiten. Man sollte also immer darauf achten, dass die Arbeitsmenge im Durchschnitt “machbar” bleibt. Gegenseitger Respekt und Vertauen bilden dazu die Basis. Nur gesunde und zufriedene Mitarbeiter sind langfristig für den Arbeitgeber am Profitabelsten.
Arbeitsorganisation
Veränderungsprozesse im Arbeitsleben sind wichtig, müssen aber begleitet werden. Bis zum Erreichen des Zieles laufen im Menschen 4 Phasen ab, die jeweils überwunden werden müssen, sonst landet man in einer Sackgasse. Das House of Change Modell nach Claes F. Janssen definiert diese vier Phasen von emotionalen Zuständen: Selbstzufriedenheit, Ablehnung, Verwirrung und Erneuerung. Es ist ein hohes Maß an Kommunikation notwendig, um die Mitarbeiter beim Change-Management mitzunehmen. Die Mühe lohnt sich aber. Jede Führungskraft sollte dieses Modell von Janssen für sich verinnerlichen, damit sie die Reaktionsweisen der Mitarbeiter versteht und entsprechend richtig reagiert. Falsches Verhalten der Führungskraft kann zu psychischer Belastung führen.
Wahrnehmung und Wertschätzung
Jede Führungskraft sollte oder muss sogar seine Mitarbeiter kennen (Fähigkeiten, Schwächen, Umfeld, Wesensarten, etc.). Dann versteht er Reaktionsweisen und kann entsprechend reagieren. Er muss zuhören und sich bei für den Mitarbeiter wichtigen Dingen Zeit nehmen. Das ist nicht immer einfach und braucht oft auch Erfahrung. Die Bereitschaft dazu ist aber absolut einzufordern. Wertschätzung sollte ehrlich, der Sache angepasst und nicht aufgesetzt sein, sonst wird sie vom Mitarbeiter nicht ernst genommen. Sie ist aber enorm wichtig für die Zusammenarbeit.
Feedback — Kultur
Wie man an den Krankheitszahlen gut sehen kann haben die bisherigen Methoden nicht funktioniert und ich habe einige Gründe dafür aufgeführt. Letztendlich sind ja Mitarbeiterbefragungen, Workshops und gezielte Fragebogenaktionen in geclusterten Bereichen Modelle von Feedback. Nachteil dabei ist, dass die Probleme bei den Mitarbeitern nicht alle zur gleichen Zeit auftreten und somit eine zeitnahe Reaktion durch diese Verfahren, die ja nicht ständig stattfinden, nicht gewährleistet wird. Aus den bisherigen Ausführungen haben wir gelernt, dass die psychische Belastung in hohem Maße von der individuellen Persönlichkeitsstruktur abhängt und somit eine generelle Anpassung des Arbeitsplatzes in den überwiegenden Fällen keinen Sinn macht. Ich bin daher ein Freund des dauerhaft möglichen Feedbacks. In konstanten Gruppen ohne Vorbehalte bei den Gruppenmitgliedern kann man das in der Gruppe oder im Zwiegespräch Mitarbeiter — Führungskraft machen. Häufiger bestehen jedoch Vorbehalte und da bietet sich ein Feedback — Briefkasten an, der an einer Stelle aufgehängt wird, wo der Mitarbeiter ungesehen ein Schriftstück mit seinen Mittelungen einwerfen kann. Er kann seine Identität preisgeben oder es anonym verfassen. Dieser Briefkasten wird jeden Morgen durch eine befugte Person geleert und der Inhalt dem Arbeitgeber bzw. Führungskraft vorgelegt. So kann sich jeder Mitarbeiter zeitnah mitteilen und auch zeitnah mit Abhilfe rechnen. Einfacher ist es natürlich, wenn man direkt miteinander sprechen kann, aber trotzdem muss anonym möglich sein und auch bearbeitet werden.
Fazit
Wir haben festgestellt, dass 10 Jahre nach Einführung der verpflichtenden Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung die methodischen Ansätze nicht wirksam sind und zur Senkung des Krankenstandes mit einer psychischen Diagnose beigetragen haben. Nach intensiver Recherche habe ich keine Quelle gefunden, wo man das so festgestellt hat und die Methodik anzweifelt. Auch das staatliche Amt für Arbeitsschutz schaut bei seinen Kontrollen nur darauf, ob eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt und dokumentiert wurde — also die §§ 5 und 6 des Arbeitsschutzgesetzes erfüllt werden. Eine Vorher / Nachher — Betrachtung interessiert nicht. Dabei habe ich in meiner Darstellung herausgearbeitet, dass die Problematik sich überwiegend an der Persönlichkeit orientiert und von deren Strutur abhängt und weniger den Arbeitsplatz betrifft. Darüber sollte auch der Gesetzgeber mal nachdenken und seine Vorgaben anpassen. Mittelständischen Unternehmen mit überschaubarer Beschäftigtenzahl kann ich daher die oben beschriebenen Ansätze nur empfehlen.